Der Abgestürzte schafft es immer wieder, mich betroffen, schockiert und nachdenklich zu machen. So wie letztens auf einer Familiengeburtstagsfeier, als er es im Streit mit seiner Freundin - dem "Nachtschattengewächs", wie mein Vater sie einmal nannte - schaffte, dass die Nachbarschaft zusammenlief.
Macht auch nichts, dass ich die Party ausrichtete und es somit meine Nachbarn waren. Peinlich!
Langsam hab ich die Nase voll. :o(
Ich hatte meine Uhr vergessen, sah ständig nur auf meinen bloßen Unterarm, wenn ich die Zeit bis zur Pause in dieser langweiligen Weiterbildung herausfinden wollte.
Und er lachte darüber.
"Zeitlos glücklich" nannte er mich, obwohl ich doch so gern die Worteschmiedin spielte, und er sich für nicht wortgewandt hielt.
Doch genau das war ich an diesem Tag: zeitlos, entspannt und ohne jeden Stress. Und glücklich, einfach so.
Manche Tage fühlen sich an wie ein Traum, so wie mein Tag heute. Vom Moment des Aufstehens bis jetzt abends schwebte ich wie angetrunken umher, war definitiv nicht bei der Sache und chronisch abgelenkt. Zeitweise vor mich hinlächelnd, war ich noch nicht einmal in der Lage, mir nichts anmerken zu lassen.
Es war heute einfach zuviel, zu viele ungewöhnliche Begegnungen, unerwartete Nachrichten, dazu noch blendender Sonnenschein.
Vielleicht haben sich heute auch andere so merkwürdig gefühlt, vielleicht liegt es an der Sonne, jedenfalls war es ein Tag voll emotionaler Offenheit, voller Anziehung und voller Verwirrung.
Wieso nur können uns Träume so sehr verwirren? Warum bringen sie uns dazu, über Vergangenes nachzugrübeln, sentimentale Musik zu hören und in alten Fotos zu kramen?
Und verdammt, warum muss ich ihn auf dem uralten Bild auch noch so glücklich ansehen? Gerade so, als könnte in dem Traum ein Stückchen Wahrheit stecken.
Er war mein Idol. Er hatte lange Haare, trug bevorzugt schwarze Kleidung, spielte E-Gitarre und sah unglaublich gut aus, obwohl er so alt war wie mein Vater.
Am ersten Schultag verfluchte ich ihn bereits, denn er gab uns als Hausaufgabe einen Aufsatz über unsere Ferien zu schreiben. Doch dann erkannte ich, dass das seine Art gewesen war, sich Respekt zu sichern. Und tatsächlich: die Klasse parierte, und er hatte sogar die ungestümen Jungs unter Kontrolle. Ich war seine Musterschülerin, „die Dame in meiner Klasse“, sagte er meiner Mutter beim Elternsprechtag.
Er bemühte sich, unser Interesse zu wecken, nicht alles nur Theorie sein zu lassen, so ging er zum Beispiel mit uns hinaus in die Wiese, um uns Pflanzennamen und -arten beizubringen.
Zum Geburtstag schenkte er seinen Schülern Büchern mit persönlicher Widmung. Ich hütete meines wie einen kostbaren Schatz.
Beim Schiausflug fuhr ich mit ihm Schlepplift und er sang dabei nur für mich „We are the world“, das ich noch nie zuvor gehört hatte, obwohl es bereits in den Charts war. Kurze Zeit später brachte er uns das Lied bei.
Er war cool, wusste über alles Bescheid, was uns interessierte und zeichnete seinen Schülern sogar K.I.T.T., wie er in den Truck fährt. Ich war begeistert!
Er machte mehr als nur seinen Job, für ihn war es Berufung, denn er erkannte die Stärken und Potentiale der einzelnen Kinder und setzte sich mit ganzer Energie für sie ein. Weil er meinen Eltern Mut machte, durfte ich als erste in der Familie ein Gymnasium besuchen.
Bis heute treffe ich ihn ab und zu, und immer noch erkennt er mich, obwohl das nun schon so lange zurückliegt. Ob er wohl ahnt, was für eine wichtige Rolle er in meinem Leben spielte, und was er mir alles gab?
Als wir uns damals trennten, hatten wir den herrlichsten Rosenkrieg. Er hatte mich hintergangen und betrogen, nachdem er mir noch die herrlichsten Eifersuchtsaktionen geliefert hatte. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben und ihn am besten nie wieder sehen.
Inzwischen können wir wieder miteinander reden, viel Zeit ist vergangen und noch mehr Gras über die Sache gewachsen. In unser beiden Leben ist eine Menge passiert.
Er versucht, alles zu überspielen, doch ich sehe hinter seine Fassade. Es geht ihm gar nicht gut, er wirkt um etliche Jahre gealtert.
Und auch wenn ich es damals noch nicht geschafft hätte, ihm von Herzen alles Gute zu wünschen und ihm sein Glück zu gönnen, so tut es mir heute leid, ihn so zu sehen. Also keine Schadenfreude.
Das erste Mal ein kleines Kind über Nacht im Haus zu haben, ist eine interessante Erfahrung. Nicht nur das Kind selbst, vor allem auch die eigene Reaktion darauf.
So schlief ich unruhig, ständig mit einem Ohr im Kinderzimmer, ganz besorgt um ihn. Obwohl er nicht mein Sohn ist, sprang mein Beschützerinstinkt sofort an.
Mir gefällt, dass er - Baggerfanatiker, Spielzeugautosammler und Spidermanfan - mit einer Puppe schlafen geht. Und noch mehr, dass sein Papa das ohne Kommentar wahrnahm.
Meinen grünen Daumen vererbte mir meine Oma, dieser Gedanke kam mir in den letzten Wochen öfter. Ihren Garten habe ich stets bewundert, vor allem liebte ich eine Pflanze, die ich nur von ihr kenne - offenbar eine ganz seltene Primelart. Dank Internet weiß ich jetzt, dass es sich dabei um eine Aurikel handelt. Genau diese Pflanze wollte sie mir vor einiger Zeit - gerade als ich erfahren hatte, dass ich meine Wohnung verlassen muß - unbedingt schenken. Meine Oma wollte ich natürlich nicht beunruhigen, also erzählte ich nichts von meinen Sorgen und nahm das kostbare Geschenk erst mal nicht an - um sie selbstverständlich schon nach kurzer Zeit nachgeschickt zu bekommen.
Omas Geburtstag ist einer der seltenen Anlässe, an denen die ganze Familie zusammentrifft - und die perfekte Gelegenheit, um über positive Veränderungen zu berichten.
Ich erzählte meiner Oma also heute vom geplanten Umzug und vom eigenen Garten, in den ich die besondere Pflanze setzen werde. Und rührend wie sie ist, sagte sie, sie freut sich - allerdings war der Garten wohl nur Nebensache für sie. Viel wichtiger war ihr die Tatsache, dass ich künftig etwas näher an meinem Elternhaus wohne, so als würde das eine Rolle spielen.
Um mich herum gibt es einige Kinder - und alles sind Jungs. So sehr ich auch Männer liebe, mit Jungs kann ich wenig anfangen: das Kämpfen, die Autos, Bagger, Fußballspiele waren schon in meiner Kindheit nichts für mich, und daran hat sich im Grunde wenig geändert.
Wie schmerzhaft ich ein Mädchen vermisste, wurde mir heute erst bewusst, als ein hippes, stürmisches Mädchen mich mit strahlenden Augen ansah, weil ich ihr versprach, eine Kette aus Gänseblümchen für sie zu basteln.
Ich war eben selbst so gern ein Blumenmädchen, und auch daran hat sich nichts geändert.
Manchmal vergißt man, dass die Zeit für uns alle schnell vergeht und sich manche Dinge ganz natürlich weiter entwickeln.
Eigentlich hatte ich ja mit der Vergangenheit abschließen wollen. Warum wirft sie - oder besser gesagt, die Weiterentwicklung meiner Vergangenheit - mich dann heute gleich wieder fast um?
Und schön höre ich wieder Dolcenera: "Mai più noi due":